Le Mille du Sud

Urban Hilpert

Bereits am Vormittag vor dem Start schwelgten wir in Cafés und Bars in Carcés, einem kleinen, ursprünglichen Städtchen in der südlichen Provence im puren Leben. Südfranzösische Lebensart - egal ob in Bars, Cafés oder Boulangeries prägen die Atmosphäre. Die südliche Sonne schaffte es sehr bald, all die düsteren Gedanken und Geschehnisse im Vorfeld der Anreise aufzulösen und zu verdrängen. Dass wir in den zentralen Bar in der Nähe des Hotels immer wieder Bekannte und Freunde und noch unbekannte Randonneure zum Plausch trafen, tat natürlich sein Übriges. Es war so schön, vor einem Rosé oder Bier oder Perroquet (Pastis mit Pfefferminzsirup) oder Café au Lait zu sitzen und zu schwadronieren über all die Dinge, mit denen sich ein Randonneur nun mal nur mit anderen Randonneuren stundenlang unterhalten kann. Da wurde einem ganz warm ums Herz. Nur der Gedanke an die morgige Unternehmung ließ mich zuweilen innerlich frösteln. In was für ein Abenteuer hatte ich mich da nur wieder begeben? Tausend Kilometer Radfahren – das ist einfach nicht vorstellbar, selbst wenn man es schon ein Dutzend Mal gemacht hat. Unsere Anreise mit dem Auto hatte über 750 Kilometer betragen und war ewig lang gewesen. Noch mal 250 Kilometer mehr und unter Einbeziehung aller möglichen Berge und dann mit dem Rad? Nur ein Schluck Rosé und der eine oder andere Witz über sich selbst und die Anderen Verrückten und das Schwadronieren über vergangene Heldentaten konnte diese Zweifel kurzfristig übertünchen. Es sollte doch machbar sein – irgendwie. Diese Spannung verhilft zum Start und darüber hinaus und wenn man mal unterwegs ist, dann ist man unterwegs, Tritt für Tritt um Tritt. Einfach so lang nicht mehr aufhören zu Treten bis die Sache vorbei ist. So verbrachten wir einen herrlichen, reinen Urlaubstag der Akklimatisation und Einstimmung. Bei einer etwaigen Teilnahme kann ich nur jedem wärmstens empfehlen, das genau so zu tun. Schon rein körperlich ist es wahrscheinlich nicht ganz einfach aus dem schon kühlen Norden in die teils noch hochsommerliche Hitze Südfrankreichs einzutauchen und dann – es lohnt sich! Eine solche Langstrecke sollte man möglichst vollkommen ausgeruht und entspannt angehen. Diese Zeit gehört ganz einfach zu einem 1000er fest dazu und sollte im Vorfeld fest mit eingeplant werden. Genauso wie genügend „Luft“ im Nachhinein.

Abends dann radelten wir gemeinsam zum „Salle Polyvalente“, einer Mehrzweckhalle, wo Sophie und ihre Helfer schon eifrig wirbelten um unser Abendessen vorzubereiten. Perfekte Organisation. Liebevolle Betreuung. Sophie gab die Startunterlagen aus, während im hinteren Teil der Halle noch ein heißer Aerobic-Kurs abgehalten wurde. Jeder erhielt ein T-Shirt mit dem von Sophie selbst gestalteten Logo. Insgesamt knapp über dreißig Randonneure trudelten ein. Franzosen, ein „Seattle Randonneur“, Italiener, ein Brite (mit dem wir noch näher bekannt werden sollten) und natürlich das verhältnismäßig große Kontingent von uns Deutschen

Das Buffet wurde eröffnet. Unsere Mägen wurden mit Couscous, Gemüse und Huhn gestopft bis sie zu platzen drohten. Auf mich hatte es ein gewisser Herr des Argens Cyclo Club Carcés besonders abgesehen. Als Nicht-Fleisch-Esser hatte ich es tatsächlich gewagt, ein Hühnerbein oder was ähnlich unsagbar fleischlich Aussehendes abzulehnen und so verfolgte er mich mit Nachschlägen von Gemüse und Couscous in zehnfacher Menge eben dieses Hühnerbeins. Außerdem wurde ich von Sophie persönlich noch zu einer Portion Rührei zum Ausgleich eben jenes Hühnerbeins überredet. Alles zusammen schmeckte wunderbar, aber als dann zum Schluss auch noch überraschend Kuchen gereicht wurde, wurde es fast schon bedenklich. Diese Intensität der Essensausgabe war wohl nicht nur der reinen, üblichen Gastfreundschaft zu verdanken, diese Herren wussten wahrscheinlich sehr genau, was sie taten, dass wir jedes Körnchen Kraft und jedes Quäntchen Energie noch brauchen würden. Auch Getränke wurden ständig nachgereicht. Kann mir vorstellen, dass dies auf die direkte Anweisung von Sophie geschah: „Lasst mir keinen gehen, der nicht bis zum Platzen gefüllt ist!“. Überhaupt war die ganze Atmosphäre der Veranstaltung von Herzlichkeit und Nähe geprägt – der Charme einer - noch - kleinen Veranstaltung. In vielen Details spürt man, wie viel Engagement und Herzblut dahinter steckt. Sophie hatte selbst darauf verzichtet, das Brevet zusammen mit uns zu fahren um ganz für die Organisation und die Teilnehmer da zu sein. Sie war das Brevet eine Woche vorher ganz allein!! abgefahren und ließ die neuen Informationen wie z.B. die Tunnelsperrung am Lautaret aktuell in die perfekte Streckendokumentation einfließen. Ich vermute, all die anderen Teilnehmer fühlten sich genauso gut aufgehoben und betreut. Aber die Vernunft gebot uns dann doch, das Gelage nicht allzu lang auszudehnen und so machten wir uns alle zusammen auf zu unseren Schlafgelegenheiten. Der Schlaf vor so einem Event ist meist eine ganz eigene Sache und wenn dann noch der Bauch so drückt, dass man kaum liegen kann wird es nicht besser. Überrascht fühlte ich mich dennoch gut ausgeschlafen als um 06:00 der Wecker klingelte. Ich packte meinen Krempel zusammen, schmiss es ins Auto und machte mich auf zum Start. Auch die Leute vom Campingplatz waren sehr entgegenkommend und nett und wir konnten das Auto dort innerhalb des Campinggeländes für die nächsten Tage parken.

Mille du Sud 2011 uHilpertDas Frühstück war genau so üppig und reichhaltig wie das Abendessen aber mangels Appetit von meiner Seite recht schnell erledigt. Es dämmerte als wir starteten und ein herrlicher, wolkenloser Tag kündigte sich an. Ungetrübtes Radeln, aufgehende Sonne, intensiv duftende Kieferwälder. Dieser Duft von Harz und Kräutern. Der Duft des Südens. Wellen von Euphorie durchzogen mich, breiteten sich aus, strömten in jede Zelle bis alles in mir angefüllt war von purer Freude und Glück. Diese zauberhaften Städtchen, angestrahlt von der aufgehenden Sonne, Gebäude weiß leuchtend, Kirchen und Burgen auf kleinen Anhöhen und Hügeln, Postkartenlandschaften. Nichts festhalten, den Moment genießen, einfach nur rollen. Rollen hinter Norberts breitem Rücken. Er zog uns durch die Lande, eine perfekt gestimmte, geölte, schwäbische Präzisionsmaschine. Absolut gleichmäßig. Egal ob Hügel rauf, Hügel runter, eben, Wind oder kein Wind. Mit der exakt gleichen Wattzahl stampfen die Beine auf und nieder, mühelos, schwerelos, mit unglaublicher Präzision. „So dät I bis Bagdad fahre“. Wer ihn so treten sieht, glaubt´s aufs Wort. Auch ein so einfach scheinender Bewegungsablauf wie eine Kurbelumdrehung kann eine unglaubliche Ästhetik haben. Wir und viele Andere, aber immer weniger werdend, in seinem Windschatten. Die Ausstrahlung einer Lokomotive, die durch die amerikanische Prärie zieht. Kraftvoll, gleichmäßig, ungerührt, unaufhaltsam. „Ob do fünf oder fünfhundert hinnä dra hänget isch mir wurscht, I fahr mei Sach.“Mille du Sud 2011 uHilpert

Mit ihm Jörg. Jörg, zum ersten Mal seit langem nicht mit seinem Fixie unterwegs. Jörg wieder auf einem Schaltrad. Ein fast schon ungewohnter Anblick. Wer Jörg von früher kennt, erinnert sich wohl vor allem an seine immer mit höchst möglicher Frequenz wirbelnden Beine. Eine Frequenz, die einem schwindlig machte. Seit er Fixie fährt (ca. 2 Jahre) scheint er das Schalten verlernt zu haben. Er drückt den Berg mit maximal möglichem Gang hoch und schaltet erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Langsamer geworden ist er dadurch allerdings nicht. Wie jemand in so kurzer Zeit seinen Stil so vollkommen umstellen kann, ist mir ein Rätsel, macht mir aber Hoffnung, auch meine eigene Fahrweise noch entscheidend verbessern zu können. Ein paar Ideen und Inspirationen wurden mir gegeben…

Aber irgendwann trennten auch wir uns von den Beiden. Bedingt durch eine Schwächephase von mir in einem langen, einsamen Hochtal koppelte ich ab von dem Zug. Es war heiß geworden. Walter und Bernhard blieben bei mir. Auch die verschiedenen Pausenlängen und sicher auch der eine oder andere Bar-Besuch von uns verhinderten ein Zusammenbleiben auf Dauer. Walter hatte es irgendwann auf den Punkt gebracht: „Wir sind ja schließlich im Urlaub!!“

Mille du Sud 2011 uHilpertWas für eine Strecke!! Der Ventoux leuchtet weiß vor blauem Himmel, rasende Abfahrt in die herrliche, unbeschreibliche Nesque-Schlucht. Unbeschreiblich - deshalb will ich es an dieser Stelle gar nicht erst versuchen. Das Glücksgefühl und die Euphorie des frühen Morgens kehrten zurück.

Bedoin, die erste „richtige Pause“ nach 180 Kilometern mit Bäckerei-Stopp mit dem besten Olivenbrot das ich kenne und anschließendem Besuch in jener Bar, der Walter und ich uns verpflichtet fühlen. Verpflichtet deshalb, weil uns ein freundlicher Kellner in diesem Frühjahr bis zum nächsten Morgen zwei Weingläser lieh, damit wir den edlen Rosé Marke „Ventoux“ für die Nacht nicht aus Joghurt-Gläsern süffeln mussten. Peter kam vorbei und setzte sich zu uns, Manuel zog nach kurzem Stopp an uns vorbei und viele verschiedene andere Teilnehmer. Natürlich auch Jörg und Norbert, die wir in Bedoin zum letzten Mal sahen auf dieser Tour. Die „Bagdad-Bahn“ war endgültig an uns vorübergezogen; es waren dann auch die Beiden, die letztendlich als Erste in Carcés wieder eintreffen sollten. Auch Manuel enteilte uns für den Rest der Tour, während wir Peter noch so einige Male treffen sollten. Die Atmosphäre in Bedoin ist vollkommen geprägt durch Radfahrer, hauptsächlich Rennradfahrer, die zum Ventoux wollen und von jenen, die strahlend das Gipfelglück bereits hinter sich haben. Bedoin ist eine Pause wert. Bedoin zu verlassen, ohne ein Bier, ohne einen Rosé, ohne einen Perroquet, ohne einen Café au Lait genossen und die Atmosphäre getrunken und aufgesaugt zu haben ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Mille du Sud 2011 uHilpertDie Ardèche – wieder so ein schwerer Abschnitt von unbeschreiblicher Schönheit. Perfektes Timing, bzw. ganz einfach Glück: Im letzten Tageslicht waren wir am Ende der Schlucht am Naturwunder Pont d´Arc. Wo sich im August hunderte von Wohnmobilen und Autos an den Aussichtspunkten drängeln waren wir allein. Abendstimmung, Sonnenuntergang, Stille. Die Euphorie des Tages änderte die Farbe und wechselte in Ehrfurcht vor so viel Größe und Schönheit der Natur.

Inzwischen hatte sich eine feste Gruppe gebildet, die sich nicht mehr ändern sollte. Mille du Sud 2011 uHilpertWir waren zu Viert. Rich aus London hatte sich zu uns gesellt und war der Einzige, der unseren Rhythmus von nicht allzu langsam fahren, verbunden mit verhältnismäßig langen Pausen mitgehen wollte und sich klaglos all unseren Entscheidungen anschloss. Aber auch er schien nach gutem Abschneiden bei Paris-Brest im Urlaubsmodus. Und es schien durchaus, als ob er Spaß an und mit den „Bloody Germans“ hatte. Die etwas spezielle Art und Weise wie sie es mit der Strecke aufnahmen und dabei die kulinarischen und alkoholischen Herausforderungen am Rande nicht vernachlässigten war eigentlich gar nicht so deutsch, wie der typische Engländer sich den typischen Deutschen eben so vorstellt. Eher perfekt angepasst an Land und Leute, südfranzösisch eben. Im vollen Leben. Wir fragten ihn irgendwann mal ob ihm das ständige Geschwätz (vor allem von Bernhard und mir in der Nacht) nicht auf den Wecker ginge. „I don´t mind when you talk in your language– you are Germans. But I think you talked all the time about me, didn´t you?” Natürlich sprachen wir über ihn, wenn er am Hügel wieder mal auf dem großen Blatt davonpreschte und keiner folgen konnte bzw. wollte. Wir haben so viel gelacht zusammen, miteinander, übereinander.

Die erste Nacht mit all ihren Hügeln und Pässen und der von mir initiierten Schlafpause unter dem Vordach einer Kirche in Aouste ist mir nur sehr nebelhaft in Erinnerung. Umso besser der Sonnenaufgang in der Schlucht, das Warten in der Bar des Orts auf das Öffnen des Ladens in Saint-Nazaire-le-Désert um 08:30. Gute Entscheidung: Die folgenden Pässe hätten wir ohne Essen nur schwerlich ohne Hungerast geschafft. Ich sollte wohl nebenbei noch erwähnen dass diese Päßchen sowie die ganze Gegend von atemberaubender Schönheit waren. Und unbeschreiblich.

Mille du Sud 2011 uHilpertDie mörderische Hitze des zweiten Tages und der Col du Festre. Oben angekommen, bestellte ich -was sonst? - einen Rosé. Mein Französisch bewegt sich zwischen nicht vorhanden und rudimentären Fragmenten. Dass ich Rosé wollte hatte die freundliche Bedienung aber schon verstanden. Sehr besorgt wollte sie mir verständlich machen, dass es sich bei Rosé aber doch um Wein respektive Alkohol handle! Ich schaffte es nur mit Mühe, ihr klar zu machen, dass genau dies mein Begehr sei. Auch der Hinweis, dass sie doch bitte den Kühlschrank mit viel Bier füllen solle, (eins von zwei Bieren für meine Kollegen war warm aus dem Lager) da ja bestimmt noch mehr Radfahrer kommen würden, stieß auf leichtes Befremden.

Dass diese Reise für mich komplett unter einem mehr als nur glücklichen Stern stand wurde vollends bewiesen, als ich einen veritablen Sturz komplett unbeschadet überstand. Rasende Abfahrt - ein scharfkantiger, faustgroßer Stein verursachte einen platten Vorderreifen und in der nachfolgenden 180°-Kurve schmierte ich vollkommen ab, schlitterte weit über die Straße. Zwei Abschürfungen in Größe eines Euro-Stücks an Ellbogen und Oberschenkel waren die Folge. Ein kleines Wunder.

Hätte sich das Folgende im Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit abgespielt würde ein reißerisch veranlagter Zeitungsschreiber vielleicht mit „Nächtliches Drama am Lautaret“ titeln.

Mille du Sud - uHilpertAber erst mal mussten wir natürlich was Essen. Die Kneipe, in die wir geschickt wurden hatte das letzte warme Essen in Bourg d´Oisans. „Seit zwanzig Jahren schicken alle Wirte, die Leute zu mir, wenn sie nichts mehr machen wollen“ übersetzte Walter. Nach kurzem Überlegen entschloss sich der Wirt auch uns noch was zu kredenzen. „Bringt Eure Fahrräder einfach mit rein!“ Walter erklärte dem Wirt, was für eine spezielle Spezies von Radlern wir waren; mit Hilfe der Karte versuchten wir zu erklären, was wir schon hinter uns hatten. Und vor uns. Größten Respekt und größtmögliche Unterstützung. Es gab sehr ölige Pasta mit Kräutern und leichtem Zitronengeschmack; für Bernhard und Rich mit richtig üppig Lachs.

Mille du Sud 2011 - uHilpertWir dehnten den Besuch in der urigen, schräg dekorierten Kneipe möglichst aus, wir waren fertig, der Wirt noch am Essen. Dies nutzten wir noch für eine kurze Schlafpause. Was für eine Kneipe! Vier Rennräder, schlafende Randonneure in allen möglichen Stellungen verteilt. Walter fragte den Wirt vorsichtig ob wir irgendwo draußen schlafen könnten. Klar doch, er öffnete die überdachte Terrasse draußen für uns, sah noch mal nach uns und meinte, wir sollen uns doch bitte auf die Tische legen. „Gute Nacht“. Eine halbe Stunde wollten wir uns noch gönnen. Kurz bevor wir aufbrechen wollten, sprang Bernhard auf und ergoss seinen kompletten Mageninhalt an passender Stelle auf die Straße. Sein Magen hatte die Nudeln-Öl-Zironensäure-Lachs-Mischung so gar nicht haben wollen. Ihm war sterbensschlecht. Das sah gar nicht gut aus. Und trotzdem brach er auf mit uns Richtung Pass.

Wir fuhren ganz ruhig an aber nach wenigen Kilometern sagte Bernhard: „Das hat so keinen Sinn, ich muss erst mal unten bleiben, warten bis sich mein System beruhigt hat. Wenn Ihr in Briancon Schlafpause macht, kann ich Euch wieder einholen.“ Die Entscheidung hörte sich endgültig an. Wir tauschten Handynummern aus und starteten zu Dritt in die Nacht.

Mille du Sud 2011 - uHilpertBernhard hatte erst letztes Jahr seine allerersten Langstreckenerfahrungen in Freiburg gemacht und war dieses Jahr erstmals die komplette Serie gefahren. Noch nie in seinem Leben allerdings mehr als 600 km. Würde er sich tatsächlich ganz allein mit ausgeräumten Magen in die nächtliche Einsamkeit eines Zweitausender-Passes wagen? Ich bin sicher: Nicht jeder würde das tun. Die Aussicht uns wieder zu treffen war doch durch allerlei Unwägbarkeiten geprägt und danach lagen auch noch über 300 Kilometer mit den entsprechenden Höhenmetern vor uns…

Unter solchen Gedanken schraubte sich der Rest der Truppe im Mondlicht schweigend höher und höher. Wenig später wurde Walter müde: „Ich muss mich hinlegen“. Kurze Absprache: Spätestens am Ortsanfang von Briancon sollten wir an einer Bushaltestelle oder Ähnlichem am Straßenrand warten. Walter blieb irgendwo in der Dunkelheit zurück. Noch zu Zweit. Aber wie meist am Berg enteilte Rich in großem Gang, sein Rücklicht entfernte sich, ich ließ aber nicht zu, dass es komplett aus meinem Blick entschwand. Jetzt war jeder auf sich allein gestellt. Allein mit dem Berg und den eigenen Gespenstern. Die Größe und Gewaltigkeit der Bergwelt um uns war nicht zu sehen aber allseits zu spüren. Rauschende Wasserfälle, die irgendwo die Felswände hinunterdonnerten. Der Gebirgsbach entlang der Straße. Der eigene Atem. Sonst kein Geräusch. Kein Auto. Kein Mensch. Einsamkeit. Ich klammerte mich an dieses rote Rücklicht das sich nun auf einmal schleichend Meter um Meter zu entfernen schien. Müde. Ich will schlafen. Nur noch schlafen. Bis La Grave. Halt durch bis la Grave. La Grave, eine Ortschaft ca. 9 km vor der Passhöhe. Dort wartete Rich auf mich. Da, das perfekte „Hüttchen“. Ein „Public Phone“, ein Holzbau, absolut windgeschützt, warm. Klasse. Groß genug für drei Leute, sogar abgeteilt. Ideal. Auch Rich war mit der Schlafpause einverstanden. Ich stellte mein Rad an einen Laternenpfahl, schloss ab, stellte mein Rücklicht auf Discobeleuchtung –Walter müsste im Koma fahren um das nicht zu sehen – und legte mich schlafen. Tiefer Schlaf. Schwerelos, ohne Wecker. Irgendwann kam Walter, ich nahm ihn kaum war – er legte sich noch mal zu uns. Schlaf.

Wieder starteten wir in die Dunkelheit. Jetzt, ausgeschlafen, der pure Genuss. Ein Traum – träumten wir? – hier zu sein, hier oben in der nächtlichen gewaltigen Bergwelt der Hochalpen, vom Mond beschienen.

Der offiziell gesperrte Tunnel. Irreal. Gelblich beleuchtete Staubwolken vor und über dem Eingang. Schweigend tauchten wir in die Staubwolke. Schweigend arbeitende Männer. Der Lärm der Fräsen und Bagger. Riesige Maschinen. Surreal. Blickkontakt mit den vermummten Arbeitern. Keine Reaktion, kein Wort, kein Widerstand. Stoisch gingen sie ihrer Tätigkeit nach, sie schienen uns nicht wahrzunehmen. Gespenstisch. Wortlos umfuhren wir Arbeiter und Hindernisse. Aufatmend entkamen wir dem Loch im Berg.

Passhöhe, 2058 Meter. Nicht so kalt wie befürchtet. Fotosession. Glück und Freude. Da, unter uns – ein einsames, sich bewegendes Licht!! Schnell kam es näher und höher. Konnte es sein, dass Bernhard…? Ja, Bernhard. Tatsächlich war er uns gefolgt, konnte wieder was Essen, war allein gestartet in diese Nacht, hatte alles gegeben um uns zu folgen. Die Alpen, die großen Pässe, sie sind nun mal seine Welt, sein Metier. Bravo, Bernhard!! Glück und Freude verdoppelt. Im ersten Licht schälten sich langsam Bergriesen aus der Dunkelheit. Ein unvergesslicher Augenblick. Kurzes Durchatmen. Weiter. Rasende Abfahrt nach Briancon, Abfahrt in den Eiskeller.

Schlotternd und vollkommen durchgefroren stolperten wir in die allererste Vorort-Bäckerei. Herrlich warm war es da, Kaffee schien es auch zu geben. Bernhard eröffnete uns: „Ich habe selbst nicht wirklich geglaubt, Euch noch einmal wieder zu sehen. Ich habe mich hingelegt, ohne den Wecker zu stellen, aber dann war es zu ungemütlich geworden. Ich bin dann einfach aufgestanden und losgefahren und als ich Eure Lichter sah, bin ich gefahren, was das Zeug hielt.“ Doch die Gespenster der vergangenen Nacht schienen doch noch einmal Schatten zu werfen: Die Bedienung in der Bäckerei behandelte jedes einzelne Brötchen in der Theke wie einen persönlichen Feind und schon der bloße Anblick eines Kunden war eine Zumutung. Die Äußerung einer Bestellung störte den gehassten Arbeitsablauf erheblich und wurde mit Blicken bestraft, die hätten töten können. Ein Kettensträfling strahlt mehr Freude aus bei seiner Arbeit. Die Krönung des Ganzen war dann, als Walters Café au Lait mit lieblos reingeschüttetem Milchpulver zubereitet wurde!! Nein das konnten wir so nicht stehen lassen. So negativ konnten wir unmöglich in den Tag starten. Fünfhundert Meter weiter eine italienische Bar, Kaffee mit perfekt aufgeschäumter Milch. Der Ober, wahrscheinlich Luigi oder Dino oder Georgio mit perfekten Handgriffen und italienischem Schmalz und Charme. Ja, das war die halbe Stunde wert gewesen, jetzt konnte der neue Tag beginnen!!

Mille du Sud 2011 - uHilpertDie Nationalstraße von Briancon nach Embrun kann man getrost vergessen – ein wirklich ätzender, verkehrsverseuchter Abschnitt, der nur durch die frühe Morgenstunde und Rückenwind erträglich war.

Aber dann: Die angemessene „Entschuldigung“ für diesen Abschnitt, die die vergangenen sechzig Kilometer vergessen machte: Der „Lac de Serre“ Azurblau. Atemberaubend. Traumhaft Unbeschreiblich.

So verbrachten wir auch den dritten Tag. Wieder reihte sich Col an Col, Hügel an Hügel, Blick an Blick, Eine Überfülle von Landschaftseindrücken, die nie und nimmer alle gespeichert, erzählt oder gar beschrieben werden können. Unterbrochen vom einen oder anderen Rosé oder Bier oder Glacé je nach Gusto. Unvergesslich ist mir das Vollbad in einem ausgewaschenen Gumpen unter einer Steinbogenbrücke. Die perfekte Badewanne. Während meine Kollegen schliefen, ließ ich mir von kristallklarem Wasser den Dreck und Schweiß von zwei Tagen vom Körper spülen. Wasser ist Leben. Ich entstieg dem Bade, so erfrischt und gelabt, als hätte ich zehn Stunden geschlafen.

Ich schwebte schon seit längerem in einem Zustand zwischen Glück und Seligkeit. Der Vorrat von Endorphinen und Glückshormonen mit dem mich mein Körper überschüttete schien unerschöpflich, ständig wurden neue Mixturen ausprobiert und durch die Adern geschwemmt, die mich über alle Hügel und Schwierigkeiten trugen, mich zuweilen jauchzen und die ganze Zeit drei Meter überm Boden schweben ließen. Ich habe ich mich intensiv gefragt, was mir bei Paris-Brest-Paris 2011 gefehlt hat, was denn da „schief gelaufen“ ist. Die Antwort fand ich erst auf dieser Fahrt. Genau das obige. PBP 2011 war von mir nur mit Willen bestritten worden. Die Endorphine, das Glück des Fahrens hatte ich nicht anzapfen können, das Fass blieb zu. Der Rest war Kampf und Krampf. Nun ist mir, als hätte sich mein Körper dies alles aufgespart um sein Füllhorn auf dieser Fahrt nur ums so verschwenderischer auszuschütten. Eine lehrreiche Erfahrung.

Und längst war uns klar geworden: Wir würden uns auch noch weit in die dritte Nacht begeben müssen. Gegen Abend fuhren wir dann wieder auf einer Nationalstraße Richtung St. André les Alpes. Richtung schwarze Gewitterwand. Wo wir fuhren, war die Straße nass, das Gewitter schien eher von uns wegzuziehen. Wenn wir keine typischen Deutschen sind, dann ist Rich auch kein typischer Engländer. Er hasst den Regen, ja, er scheint ihn sogar zu fürchten. Er sprintete nach St. Andrés les Alpes als könnte er dem Schicksal und dem Regen entfliehen. Wir konnten es auch. Walter wollte erst weiterfahren, ich war unentschieden. Aber Richtung Süden sah es wahrhaft nach Weltuntergang aus, Blitze zuckten durch schwarzgraue, nachtblaue Wolken. Bernhards Argument war stichhaltig: Wenn wir jetzt was Essen, dann können wir durchfahren, egal was kommt. Jetzt können wir noch trocken was Essen. Wenn es uns unterwegs erwischt, können wir nirgends mehr rein, ohne uns durchnässt zu Tode zu frieren. Und essen - dies nahm er als unumstößliche Tatsache - müssen wir sowieso noch mal. Eine echte Holzofenpizza war der Lohn für diese Entscheidung. Und eine trockene Heimfahrt hinter dem Gewitter. Canyon du Verdun, andere einsame, stockdunkle Schluchten. Da musste es richtig getobt haben: Unzählige Äste und Steine lagen auf der Straße und auf einmal schrie Bernhard auf: „Da liegt Schnee, da liegt Schnee!“ Wir lachten und bezichtigten ihn der Halluzination. „Jetzt halt ich aber an!“. Er brachte eine Handvoll Hagelkörner mit. Jetzt sahen wir es auch: Überall auf der Wiese und am Straßenrand lag zentimeterdick der Hagel. Wehe Dem, der da durch musste. Ein Hoch auf die Holzofenpizza!!.

Mille du Sud 2011 - uHilpertBernhard und ich fuhren vorn, wie meistens in der Nacht und redeten über uns, den lieben Gott und die Welt. Ich erklärte Bernhard wieder einmal, dass in so einer Nacht ein Randonneur sein Innerstes nach außen kehren kann, gefahrlos sein Herz ausschütten kann, weil am nächsten Tag sowieso niemand mehr weiß, was er geredet hat. Einschließlich er selbst. Der Zauber einer guten Nacht. Wach, konzentriert, scheint man dahinzufliegen, genießt die Dunkelheit, das Gespräch, das Bewusstsein, dem Ziel näher und näher zu kommen. Keine 100 Kilometer mehr, 90, 80, 70, noch vergehen sie wie im Flug. Dann auf einmal, am Ortsanfang eines kleinen Dörfchens irgendwo im Nirgendwo rief Walter: „Ich muss mich zehn Minuten hinlegen“.

Bernhard schaute mich erschrocken an. „Und was machen wir?“ Ich frier doch so schnell, ich kann jetzt nicht schlafen, komm, Urban, bitte lass uns eine Runde ums Dorf drehen!“ Ich wusste schon bald was Bessres: Wir erreichten die Ortsmitte, eine hell erleuchtete Bar, gut gelaunte, recht angeheiterte Menschen davor und darin. „Benhard, Ich weiß ganz genau was ich jetzt machen werde“ „Rich what about you? – Do you want to sleep with Walter or do you want to have some fun with Bernhard and me in this bar?” Nun, Rich erwies sich wieder nicht als typischer Engländer – er entschied sich für den Schlaf. Nun konnte selbst Bernhard nicht mehr widerstehen – auch er genehmigte sich einen Perroquet – den ersten auf dieser Tour!! Die Menschen in der Bar hätten nicht anders auf den Besuch von Außerirdischen reagieren können. Jetzt waren sie eingetroffen, die Menschen vom anderen Stern. Die Szenen, die Fragen, das Erstaunen, das Raunen das durch die Menge ging, als wir sagten, dass wir heute noch nach Carcés fahren würden. Die maßlose Verwunderung von einigen Frauen, als sie draußen vier Räder entdeckten und nur zwei fremde männliche Individuen in der Bar vorfanden. Da sollten doch noch irgendwo zwei Männer stecken?!. Das Entsetzen, als sie Rich auf der anderen Straßenseite oben auf der Treppe zur Post schlafen sahen. „Ihr könnt doch Euren Freund nicht sterben lassen, da oben in der Kälte.“ Ein Anderer, schwankend zwischen Fürsorge und Polizistentum: „Ihr dürft nicht weiterfahren, ihr könnt nicht weiterfahren – zwei Leute schlafen, zwei Leute trinken – das ist verboten, das ist Wahnsinn, das ist ganz einfach nicht möglich!“ Was sich in dieser Bar im Nirgendwo zwischen den alkoholgetränkten Dorfbewohnern und den mit körpereigenen Drogen vollgepumpten Radfahrern abspielte. Unbeschreibliche Szenen zwischen gemeinsamen Lachen, Staunen, Verwunderung, Einverständnis und purem Entsetzen. Diese letzte Bar war die absolute High-Light-Bar auf dem gesamten „Le Mille du Sud“. Der letzte Höhepunkt. Und wir hatten, weiß Gott, schon so viele gehabt. Walter kam irgendwann aus irgendeinem Loch gekrochen, trank noch einen Cafe, Rich musste dann tatsächlich von den Toten auferweckt werden. Jetzt aber auf, auf, auf. Weiter zur letzten Kontrolle. Weiter zum Ziel. Immer weiter wenn es am Schönsten ist. Der Fluch des Randonneurs. Mit großem Hallo wurden wir verabschiedet und verschwanden spurlos in der Dunkelheit lautlos, strahlend wie Geister. Die Leute in dem Ort werden wohl noch genau so lange an uns denken wie wir an sie.

Die letzte Kontrolle. Uns gelang es tatsächlich, in Ampus weit nach Mitternacht noch einen Stempel von einem netten Bäcker zu bekommen der just in dem Moment ein nächtliches Zigarettenpäuschen auf dem Dorfplatz machte Das Glück blieb uns hold bis zum allerletzten Kilometer. Das Streckenbuch war komplett gefüllt. Nirgends hatten wir „Foto-Kontrolle“ machen müssen oder die Postkarten benötigt. Überall hatten wir unseren Stempel erhalten. Noch ein paar wenige Hügel, ein paar Kilometer durch nächtliche, duftende Kiefernwälder. Zauberhafte, schlafende Städtchen, die man so gern mal bei Tag besuchen würde, wenn die Bars geöffnet haben.

Plötzlich. Fast zu schnell: Carcés. Ziel. Alles vorbei.

 

Fazit:

Bernhard brachte es auf den Punkt: „Die Tour war nicht leicht aber sie war geprägt durch Leichtigkeit“.

Die Anstiege und Cols der Tour sind allesamt nicht steil und sehr gut zu fahren. Fast allesamt „Rollerberge“. Die zahllosen langen, „flachen“ Steigungen sind aber recht zeitraubend und benötigen sehr viel Zähigkeit, Geduld, Mut und Zuversicht. Aber: Jeder einzelne Berg lohnt sich, die Abfahrten sind ein Traum. Alles Andere: Selbst erleben, unbeschreiblich.

Höhenmeter: fast 13000

Kilometer: 1012

 

Die Cols:

Col de la Madeleine 448m / Col de l'Escrinet 787m /Col de l'Arénier 682m / Col des Guillens 802m / Col du Portail 805m / Col de Vache 887m / Col des Roustants 1030m / Col de Palluel 801 m / Col de la Saulce 877m / Col du Festre 1441m / Col Accarias 892m / Col d'Ornon 1371m / Col du Lautaret 2058m / Col Saint-Jean 1332m / Col de Maure 1346m / Col du Labouret 1240m / Col de l'Orme 734m / Col des Robines 988 m / Col de Cheiron 887m /

Nebenbei dann noch ungezählte, namenlose “Hill Summits”, wie so schön im Streckenplan stand

Streckenplan: Absolut perfekt. Wir haben uns nie verfahren und mussten nie die Karte zu Hilfe nehmen. Ein Navigationsgerät ist nicht nötig.

Diese Reise birgt genug Erinnerungen, die mir über viele trübe, neblige Novembertage hinweghelfen werden. Vieles wird unvergesslich bleiben. Wenn sich nächstes Jahr im Herbst wieder die Randonneure des Nordens sa mmeln und gen Süden ziehen, wird er auch mir wieder mächtig in den Ohren klingen, der Ruf des Südens.

Vielen Dank Sophie, für dieses außergewöhnliche Brevet!

Deutsche Teilnehmer:

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